04.11.–01.12.2023 / Ballett

I am a problem

Roland Petit | Aszure Barton
Mi 29.11.2023
Theater Duisburg
19:30 - 21:30
Audiodeskription Ballett
Gemischtes Abo J
Beschreibung
Carmen | Baal
Zwei Stücke, zwei starke Individuen, ein Problem.
ca. 2 Stunden, eine Pause
Empfohlen ab 14 Jahren
Carmen ist ein Problem, weil sie nicht so handelt, wie die Gesellschaft es von ihr erwartet. Weil sie die Menschen fasziniert und gleichzeitig verunsichert, ihre Identitäten hinterfragt. Die kollektive Antwort ist eindeutig formuliert: Carmen wird konsumiert, Carmen wird sanktioniert – schließlich siegt am Ende die Missbilligung der Abweichung. Der französische Choreograph Roland Petit hat den Stoff 1949 in ein Ballett verwandelt und einen legendären Klassiker geschaffen, der mit seiner Mischung aus virtuosem Ballett, effektvoller Broadway-Dramatik und spanischer Couleur locale nach wie vor berührt und begeistert.

Auch der zweite Teil des Abends setzt sich mit einer Figur auseinander, die die Menschen aufs Äußerste provoziert. Mit seinem frühen Stück „Baal“ hat der Dramatiker Bertolt Brecht ein Wesen geboren, das starke Reaktionen und eine Menge Fragen hervorruft. Wie gehen wir als Gesellschaft damit um, wenn sich jemand asozial verhält? Welche Mechanismen haben wir entwickelt, um die unberechenbaren Kräfte zu limitieren, die in uns allen stecken? Zu einer Auftragskomposition von Nastasia Khrustcheva stellt die Choreographin Aszure Barton der „Carmen“ von Petit ihre Interpretation nach Brechts „Baal“ gegenüber: Intensiv und ohne Angst vor der Andersartigkeit des Protagonisten zeigt sie eine heutige Sicht auf jemanden, der scheinbar allen Regeln der Gesellschaft trotzt.



Carmen
Nach einer Novelle von Prosper Mérimée
Uraufführung am 21. Februar 1949 des Ballet de Paris, Shaftesbury Theatre, London

BAAL
Uraufführung am 28. Januar 2022 mit dem Ballett am Rhein nach einem Schauspiel von Bertolt Brecht
Musikalische Leitung
Choreographie
Musik
Georges Bizet, arrangiert von David Garforth
Bühne und Kostüme
Gastballettmeister
Choreographie
Bühne und Licht
Kostüme
Libretto und Dramaturgie
Choreographische Einstudierung
Klavier
Inhalt
CARMEN
Doris Becker, Kauan Soares (Banditen), Ensemble Ballett am Rhein
1. Bild
Platz in Sevilla. Die Arbeiterinnen kommen aus der Tabakfabrik, draußen warten die Männer schon auf sie. Es wird geflirtet und sich amüsiert. Auftritt Carmen, die in einen heftigen Streit mit einer anderen Arbeiterin verwickelt ist. Der Soldat Don José soll für Ordnung sorgen und greift ein. Sofort ist er wie gebannt von Carmens Erscheinung. Auch wenn Carmen so schnell verschwindet, wie sie erschienen ist, ist Josés Schicksal besiegelt.
2. Bild
Taverne, Treffpunkt der Halbwelt. Don José ist auf der Suche nach Carmen, weil er sie wiedersehen will, und bekennt sich zu seiner durch die Begegnung mit Carmen entfachten Leidenschaft. Endlich erscheint sie und ist sofort der funkelnde Mittelpunkt. Carmen und Don José spielen ein Spiel von Begierde und koketter Ignoranz. Sie verschwinden miteinander.
3. Bild
Im Zimmer. Die Spannung zwischen Carmen und Don José ist groß. Für einen Moment gibt es nur noch ihre beiden Körper, die sich näherkommen. Ihre Zweisamkeit wird von einer befreundeten Banditenbande gestört, die einen nächtlichen Raubüberfall plant und Carmen und Don José dazu überredet, ihnen zu helfen.
Futaba Ishizaki (Carmen), Gustavo Carvalho (Don José)
4. Bild
Nacht. Am Rande einer einsamen Straße warten die Banditen auf ihr Opfer. Don José drückt seine Zweifel aus, aber Carmen ermutigt ihn zu handeln. Um seine Männlichkeit zu demonstrieren, ermordet Don José das auserwählte Opfer und bleibt allein zurück.

5. Bild
Der Stierkampf. Vor den Toren der Arena herrscht allgemeine Aufregung und Heiterkeit. Die neugierige Menge erwartet die Ankunft des Stierkämpfers, des Toreadors. Als dieser erscheint, werden zwischen ihm und Carmen scheinbar eindeutige Blicke gewechselt. Die Menge begibt sich eilig in die Arena, aber Carmen wird vom in Eifersucht verfallenen Don José abgefangen. Sie stellen sich einem Duell auf Leben und Tod, bei dem Don José Carmen ersticht. Don José zerbricht an seiner Tat. In der Arena jubelt das Publikum. //
BAAL
Die hohe Gesellschaft begeistert sich für Baal und seine Kunst, alles dreht sich um ihn. Gastgeber und Verleger Mech will Baals Lyrik herausbringen. Baal hat kein Interesse daran und macht kein Geheimnis daraus. Er provoziert die Salongesellschaft, indem er vulgär wird und offensiv mit Emilie, der Frau von Mech flirtet. Während sich die Menge von Baal abwendet, bleibt der junge Schriftsteller Johannes, auf den Baal einen tiefen Eindruck gemacht hat, bei ihm und bittet um ein Wiedersehen.

Johannes fürchtet sich vor dem eigenen sexuellen Verlangen gegenüber seiner sexuell unerfahrenen Freundin Johanna und sucht bei Baal Rat. Baal antwortet ihm durch explizite Beschreibung seiner eigenen Sexualität.
Rose Nougué-Cazenave (Johanna), Wun Sze Chan (Baal)
Baal begrüßt seinen Freund, den Komponisten Ekart. Sobald Baal die Schenke betritt, ist er Mittelpunkt des Geschehens. Er unterhält die Fuhrleute und Kneipengäste und flirtet mit der Kellnerin Luise. Emilie ist ihm aus der hohen Gesellschaft gefolgt und fühlt sich unwohl und gedemütigt. Als Johannes auftaucht und ihm Johanna vorstellt, stellt Baal auch ihr nach.
Johanna ist Baal in seine Kammer gefolgt und hat mit ihm die Nacht verbracht. Bestürzt stellt sie am nächsten Morgen fest, was sie getan hat. Zwei Schwestern aus der Nachbarschaft, die häufiger zu Baal kommen, um von ihm geliebt zu werden, statten ihm einen Besuch ab. Sie berichten, dass Johanna sich in den Fluss gestürzt hat. Baal sucht nach einer ernstzunehmenden Partnerin und begegnet Sophie. Ein Spiel auf Augenhöhe beginnt und sie vergessen alles um sich herum.
Baal muss sich und seine Kunst verkaufen, um die gemeinsame Existenz zu sichern.

Seine freie Zeit verbringt er lieber mit Ekart als mit der schwangeren Sophie. Er lässt sie skrupellos zurück. Ekart folgt ihm. Sie sind unterwegs und draußen. Baal schreibt Lieder, Ekart komponiert. Die Zeit vergeht. Sie sind einander nah wie nie.
Kauan Soares (Ekart), Wun Sze Chan (Baal)
Zurück in der Stadt begegnet Baal den Menschen aus seiner Vergangenheit und erlebt eine veränderte Situation. Seine Anziehungskraft ist ausgebrannt, sein Effekt auf die Menschen beinahe erloschen. Als er sieht, wie Ekart plötzlich im Mittelpunkt steht, ersticht er Ekart.

Baal ist allein und auf der Flucht. Er antizipiert seinen eigenen Tod und zerfällt.//
Stimmen unserer Scouts für Oper und Ballett
Ralf Blaha
Ein grandioser Ballettabend zum Staunen, Wundern, Nachdenken, Jubeln. Herausragend das großartige Ballettensemble, die wunderbaren Duisburger Philharmoniker, die traumhaften Bühnenbilder und die brillante Lichtgestaltung!
Carmen und Baal, geniale Choreographien aus zwei Epochen. Carmen aus dem Jahre 1949, Liebe, Leidenschaft, Freiheitslust trifft auf Rollenbilder einer patriarchalischen Gesellschaft. Seitdem sind rund siebzig Jahre vergangen. Archaische Gesellschaftsmodelle schienen längst im Lichte aufgeklärten Denkens verpufft zu sein, doch die Restauration atavistischen Verhaltens liegt offensichtlich wieder im Trend. Irritierend und Erschreckend.
Und dann Baal, eine aktuelle Choreographie, die Musik von wilder, brachialer, unbändiger Kraft und Energie. Baal, ein „asozialer“, anarchischer Freigeist, für den gesellschaftliche Normen und Narrative irrelevant sind. Ein Thema am Puls unserer Zeit. Ist Baal wirklich ein Problem, für wen?
Irgendwie klingt mir Udo Lindenberg im Ohr „Und ich mach mein Ding, egal was die anderen sagen, … das ist egal ...“
Standing Ovations, stürmischer, minutenlanger Applaus!

- Ralf Blaha über die Premiere am 04. November 2023 in Duisburg
Carmen war perfekt. Wunderschöne farbige Bühnenbilder, dazu passende Kostüme, hervorragende Musik, perfekter klassischer Tanz. Soweit wirklich sehr beeindruckend. Doch es hat mich leider nicht berührt. Das Stück hat mich trotz seiner Perfektion nicht mitgenommen, wobei ich bis heute nicht sagen kann, woran es gelegen hat und ich bleibe daher etwas ratlos zurück.
Baal hingegen war voller Leben, der Tanz war so kraftvoll und leidenschaftlich, die Musik modern, passend, mal harmonisch, mal voller Dissonanzen. Die Kostüme einfach nur grün und schwarz, ikonenhaft. Das Bühnenbild wandelbar aber im Grunde unverändert. Auch erschien mir Baal nicht als böser und asozialer Charakter, wie von Brecht erdacht, sondern eher als das Opfer seiner eigenen Leidenschaft. Eine interessante Sichtweise, die mich sehr angesprochen hat.
-Götz Odenwald über die Premiere am 4 November 2023 in Duisburg
Götz Odenwald
Alexandra Knappik
„I am a problem“ - ein Ballettabend voller großer Namen. Auf der einen Seite steht die tänzerisch aufgearbeitete Oper Carmen, deren Choreografie voller klassischer Brillanz strotzt. Auf der anderen Seite steht Brechts tänzerisch umgesetzter Baal, der mich durch seine Intensität in den Bann zieht.
Carmen ist trotz des dramatischen Endes ein leichtes Stück, welches für Klassikbegeisterte faszinierend sein kann. Für mich fehlt jedoch das gewisse Etwas, das ich bei Baal zu finden scheine.
Baal zieht mich direkt in seinen Bann. Ob durch das trübe Licht, das puristische und durch Projektionen unterstütze Szenenbild oder durch das teils aus der Norm fallende Verhalten des Protagonisten, der durch die absolut überzeugende Tänzerin Wun Sze Chan dargestellt wird. Die Musik verstärkt die durchgehend bestehende Intensität – manchmal melodisch und teilweise auch dissonant. Besonders auffallend ist das Klavier, welches die Tänzer*innen mehrfach ohne Orchester begleitet. Auch bei Baal ist das Ende nicht weniger dramatisch, lässt mich aber nicht traurig zurück. Vielmehr bleibt die Begeisterung über diesen wundervollen Ballettabend.

- Alexandra Knappik über die Premiere am 04. November 2023 in Duisburg
Carmen und Baal sind zwei sehr unterschiedliche Figuren deren Handlungen immer wieder zu Problemen führen weil sie nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechen.
Ich habe einen fantastischen, nicht ganz problemlosen Ballettabend erlebt, ein Handlungsballett, das aus der Reihe tanzt. Die Tänze sind anziehend und abstoßend zugleich, sie erzählen berührende Geschichten. Sie lassen den zuschauenden jedes Gefühl intensiv miterleben. Die Musik vertont exakt, die Liebe, den Rausch, die Verführung, die Eifersucht und die Gewalt. Die Bühnenbilder gefallen mir mit ihren ganz individuellen Besonderheiten sehr gut, gerade die aussagekräftige Schlichtheit, das Spiel mit dem Schatten und die Lichteffekte lassen den Ballettabend zu einem intensiven und wunderschönes Erlebnis für alle Sinne werden.
-Sabine Fröber über die Premiere am 4 November 2023 in Duisburg
Sabine Fröber
Mareike Engelke
Ich will direkt im ersten Satz direkt Nastasia Khrushcheva erwähnen, die im Auftrag die Musik zu „Baal“, dem zweiten Teil des Abends von „I am a Problem“ im Auftrag komponierte. Beeindruckend auch, über die Audiodeskription zu erfahren. Eine tolle Art, Ballett barriereärmer zu gestalten!
Ein Abend mit sich überschneidenden Themen – Leidenschaft, Selbstbestimmtheit, Liebe, Freiheit, Zerfall.
Doch beide Stücke wirken völlig unterschiedlich.
„Baal" ist emotional, voller Tiefe, nuanciert, mitreißend, rhythmisch. Die Bühne sehr bewußt düster und roh, Videoprojektion und Handschrift mit Gedichtfragmenten. Ich meine zu spüren, wie jede*r einzeln aus dieser Produktion mit absoluter Leidenschaft arbeitet. Hoch poetisch!
„Carmen", als erstes Stück, ist dagegen schrill, bunt, laut, hochgedreht, offensichtlich, mir beinahe zu traditionell und seltsam fröhlich.
Und, ja, klassisch, am Ende, wir kennen es, Femizid. Zwischenzeitlich frage ich mich, wie wir als Kulturschaffende in Zukunft mit diesen klassischen Stoffen umgehen wollen, in denen immer die Frauen sterben.

- Mareike Engelke über die Premiere am 04. November 2023 in Duisburg
Zwei Ballettstücke, zwei Geschichten über starke Persönlichkeiten, die der gesellschaftlichen Normen trotzen und durch ihre Anziehungskraft im Mittelpunkt stehen. Verführerische, herausfordernde, wagemutige Carmen und Baal, der provoziert, konfrontiert und zugleich fasziniert.
Wunderschöne Musik, schlichte Bühnenbilder, ein Spiel aus Licht und Schatten harmonieren mit der hervorragenden Choreographie. Während ich den klassischen Tanzstil bei Carmen bewundere, fasziniert mich die Tanzkunst bei Baal durch ihre Intensität, Kraft und Energie. Ein Ballettabend voller Leidenschaft und Dramatik, der noch lange in Erinnerung bleibt.
-Kalamkas Odenwald über die Premiere am 4 November 2023 in Duisburg
Kalamkas Odenwald
Ballettführer Audio
Mit Carmen und Baal stehen sich in „I am a problem“ zwei starke und provozierende Charaktere gegenüber. Mit Roland Petit und Aszure Barton treffen dabei gleichzeitig zwei sehr unterschiedliche Tanzsprachen und Ästhetiken aufeinander. Dramaturgin Carmen Kovacs gibt einen Einblick in die Entstehung beider Werke und worin die Besonderheiten der Choreographien liegen.
Den Ballettführer in der Live-Version können Sie 30 Minuten vor jeder Vorstellung im Foyer erleben.

Dauer: 12:48 Minuten

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